Yoko Ono: Die Pionierin des Gelächters (2024)

Erst jetzt wird klar, wie viel Humor sie hat: Eine Werkschau in London feiert die Künstlerin Yoko Ono.

Von Jens Balzer

Aus der ZEIT Nr.09/2024

Veröffentlicht am
Erschienen in DIE ZEIT Nr.9/2024

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Das ist möglicherweise nicht das Erste, woran man denkt, wenn man an Yoko Ono denkt: Aber sie ist ein sehr lustiger Mensch. Und eine sehr lustige Künstlerin. Im März 1965 sitzt sie auf der Bühne der Carnegie Recital Hall in New York, sie hat ein schönes schwarzes Kleid angezogen und fordert ihr Publikum dazu auf, ihr mit einer Schere kleine Stücke aus diesem herauszuschneiden. Erst beginnen ein paar Frauen zaghaft damit, an ihrer Bluse herumzuschnippeln. Dann nähern sich ihr auch die Männer, erst ebenfalls zögerlich, dann immer entschlossener, bis einer ihr die Träger des Büstenhalters kappt und den Stoff zwischen den Brüsten zerschneidet. Yoko Ono lässt das alles fast unbewegt, mit stoischer Miene über sich ergehen. Nur an ein paar Stellen rollt sie mit den Augen, kaum merklich, aber offenbar amüsiert über die sich Bahn brechende Enthemmung. Sie hat sich zum Objekt gemacht, aber die wahren Objekte sind in diesem Moment jene, die glauben, das ausnützen zu können. Und innerlich lacht sie darüber.

Cut Piece heißt dieses Kunstwerk, das Yoko Ono zum ersten Mal 1964 in Kyoto aufgeführt und dann an verschiedenen Orten wiederholt hat. Von der Aktion in New York gibt es einen achtminütigen Film, und dieser ist ein Herzstück der Retrospektive Music of the Mind, die jetzt in der Londoner Tate Modern zu sehen ist. Sie zeigt ein Werk, das bis tief in die Fünfzigerjahre zurückreicht – und das heute wieder erstaunlich aktuell wirkt: in seiner subversiven Heiterkeit ebenso wie in seiner feministischen Konsequenz, in der Inszenierung von Körpern und Blicken und vor allem in der Verbindung von Aktivismus und Kunst.

Ein paar Schritte nach dem Cut Piece kann man den Film No. 4 (Bottoms) anschauen, 1966 von Yoko Ono in London produziert: Er zeigt nach Zählung der Künstlerin 365 Ärsche von prominenten Vertretern des Swinging London, der psychedelischen Pop- und Kunstszene der Zeit. Es sind glatte Ärsche, haarige Ärsche, wackelnde Ärsche, alle Arten von Ärschen, die man sich vorstellen kann, auch die Ärsche der damals noch unbekannten Band Pink Floyd. "A film of many happy endings", so kündigt Yoko Ono das Werk in einem selbst produzierten Programmheft an. Darin findet sich auch ein Essay, das sich nicht um Ärsche dreht, aber um Schwänze. Und um die Frage, warum Männer überhaupt jemals "serious", also mit ernster Miene, durchs Leben gehen können – angesichts dieses albernen Dings, das ihnen zwischen den Beinen hängt. "Wäre ich ein Mann, ich würde ständig über mich lachen!" Tun die Männer aber nicht, sie lachen überhaupt nur sehr wenig, weil sie viel lieber hasserfüllt und gewalttätig sind. Wenn sie ein Talent besitzen – schreibt Yoko Ono–, dann liege es darin, "aus allem, was sie anfassen, etwas Langweiliges zu machen", zum Beispiel auch aus Kunst, Gemälden und Bildhauerei.

Yoko Ono ist eine Pionierin der feministischen Kunst, ihr Cut Piece hat viele Nachfolgerinnen dazu inspiriert, über das Verhältnis von weiblichem Körper und männlichem Blick nachzudenken. Vor allem aber ist sie eine Pionierin des Gelächters: Sie selbst hat sich, auch das kann man in dieser Schau in einem selbstbeschreibenden Dokument nachlesen, mit dem stoischen Stummfilmkomiker Buster Keaton verglichen. Dass sie 91 Jahre alt werden musste, bis die Tate Modern ihr die erste große Werkschau in London, an ihrer ehemaligen Wirkungsstätte, widmet– schon das sagt einiges über die steinernen Verhältnisse aus, die sie vor über sechzig Jahren mit dieser leisen Subversion herausforderte. Immerhin: Music of the Mind würdigt sie nun in ihrer Größe, man kann hier ein ganzes Leben durchmessen und eine Epoche der revolutionären Erneuerung der Kunst und kommt doch immer wieder in der Gegenwart an. (Ab September ist die Schau auch in Deutschland zu sehen, in der Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen in Düsseldorf.)

Alles beginnt damit, dass ein Licht aufgeht: In der ersten Kammer zeigt ein Film in extremer Zeitlupe, wie ein Streichholz angezündet wird und verglüht. Lighting Piece heißt das Werk aus dem Jahr 1955, wobei das Werk selber gar nicht aus diesem Film besteht, sondern aus der Anweisung, es der Künstlerin gleichzutun. "Zünde ein Streichholz an und schaue ihm beim Verglühen zu", lautet das erste instruction piece, das Yoko Ono entwirft, eine schriftliche Anweisung auf einem Zettel. In den Sechzigerjahren werden dem viele weitere folgen. Sie finden sich aufgereiht an der Museumswand, lauter vergilbte, mit Schreibmaschine beschriftete Blätter: "Nimm das Geräusch fallender Schneeflocken auf"; "Schrei gegen den Wind / gegen eine Mauer / gegen den Himmel". In der Mitte des Raums hängt eine Flasche von der Decke, man soll sie umdrehen und Wasser auf den Boden tropfen lassen, sodass sich daraus ein Bild ergibt – das ist dann ein instruction painting; oder man soll durch eine blickdichte große Plane mit einem Loch in der Mitte die Hand strecken, auf dass sie ein anderer Mensch auf der anderen Seite ergreift und schüttelt.

Geboren wird Yoko Ono 1933 in Tokio, wo sie Anfang der Fünfziger als erste Frau Philosophie studiert, dann wechselt sie an eine Kunstschule in New York und gerät dort am Ende des Jahrzehnts ins Zentrum der Avantgarde. Ihr wichtigster Begleiter wird George Maciunas, der Erfinder der Fluxus-Bewegung. Fluxus will die Kunst ins Fließende, Flüchtige auflösen; es geht nicht mehr um Werke, sondern um Happenings. Yoko Ono sympathisiert mit der Idee, doch missfällt ihr, dass dabei nur wieder die (männlichen) Künstlersubjekte im Mittelpunkt stehen. Mit ihren instruction pieces zieht sie sich ganz von der Bühne zurück und überlässt es stattdessen den Leuten, was sie aus ihren Vorschlägen machen. 1966 geht sie nach London und beginnt dort an Skulpturen zu arbeiten, meist sind es solche, die von selber verschwinden. Ihr Werk Apple besteht aus einem Apfel, der wie jeder andere Apfel allmählich vergammelt. Auch dies kann man in der Tate Modern betrachten – mit einem ganz neuen Apfel, am ersten Tag der Music of the Mind-Schau ist er noch frisch und grün.

In ihrer Londoner Zeit stößt Yoko Ono auf John Lennon, er hat sich – so geht die Legende – beim Betrachten des vergammelnden Apfels in sie verliebt. 1968 werden die beiden ein Paar, in der Schau gibt es einen Film über die Bed-ins for Peace zu sehen, die sie nach ihrer Hochzeit zelebrieren: Sie laden Journalisten ein, sie in ihrem Hotelzimmer im Bett liegend über Liebe und Frieden zu interviewen. Auch starten sie eine Kampagne zur Rettung des Weltfriedens: "War is over– if you want it" steht auf riesigen Plakaten, die sie 1969 überall aufhängen lassen; und sie schicken Eicheln an Politiker in aller Welt, damit sie in ihren Ländern Bäume des Friedens pflanzen. Ein paar bedanken sich mit Postkarten für das Geschenk: Die israelische Ministerpräsidentin Golda Meïr – der einzige weibliche Staatslenker in dieser Zeit – verspricht, es dem zugedachten Zweck zukommen zu lassen.

Man geht durch die Music of the Mind-Ausstellung mit großer Rührung: so freundlich, utopisch, naiv, spielerisch ist diese Kunst. Von der Aggressivität, mit der die feministischen Künstlerinnen der Siebzigerjahre gegen die Machtverhältnisse des Patriarchats anzugehen versuchten, sind die Werke von Yoko Ono ebenso weit entfernt wie von der moralisierenden Selbstüberschätzung der aktivistischen Kunst unserer Gegenwart.

Andererseits rührt ihre freundliche Welt an eine höchst gegenwärtige Sehnsucht. Diese richtet sich auf eine Kunst, die nicht auf Konfrontation setzt, auf Eskalation, Dissens, auf Boykotte, auf den Abbruch der Verständigung – sondern die sich darum bemüht, die Verständigung offenzuhalten, die alle umarmen will, auch wenn sie getrennt sind durch politische, kulturelle oder sonst welche Differenzen. Man könnte diese Kunst vielleicht als achtsam bezeichnen, wäre dieses Wort nicht durch die Selbstoptimierungs- und Kulturindustrie so ruiniert. Die Kunst von Yoko Ono setzt aber gerade nicht auf Optimierung und auf das Funktionieren in einer verwalteten Welt. In aller Freundlichkeit ist sie eine Kunst der Subversion. Und eine des Risikos: Das Risiko, das sie eingeht, ist jenes des Kitsches, der Vagheit und der unverbindlichen Utopie. Es ist ein Risiko, das man eingehen muss, wenn man das, was die Menschen von der Kunst, von der Gesellschaft und von allen anderen Menschen trennt – wenn man all das entschlossen zu überwinden versucht.

Die Ausstellung "Music of the Mind" läuft noch bis 1. September 2024 in der Tate Modern in London.

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Author: Gov. Deandrea McKenzie

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